In meinem Buch Fully Human – Being Fully Human in the Age of Artificial Intelligence habe ich mich gefragt: Was macht den Menschen aus, welche Fähigkeiten haben wir und welche können wir noch entwickeln? Die Maschine wird immer mehr Tätigkeiten und Fähigkeiten entwickeln und für den Menschen übernehmen. Wir Menschen geben diese Tätigkeiten ab. Das kann sehr nützlich sein. Ich nutze das auch, jeden Tag, auf jeden Fall!

Aber weiter gedacht: Wenn wir immer mehr Tätigkeiten – und damit Fähigkeiten – an die Maschine abgeben – was bleibt dann noch übrig für uns, welches sind die speziellen menschlichen Fähigkeiten, die wir behalten und weiter entwickeln wollen?

Kopf – Herz – Hand

Eine populäre Formulierung unserer Kernfähigkeiten ist der Hinweis auf Kopf, Herz, und Hand. Damit wird auf Denken, Fühlen und Wollen, oder Handeln, hingewiesen. Von diesen Drei kennen wir das Denken und Handeln besonders gut. Das Fühlen, der Umgang mit den eigenen Gefühlen und den Gefühlen der anderen, fällt uns noch nicht immer so leicht.

Alltag: Denken und Handeln

Eine typische Situation: wir hetzen von Meeting zu Meeting, und zwischendurch versuchen wir zu arbeiten. Wir nutzen also unser Denken im Meeting und unsere Fähigkeit zu Handeln, wenn wir uns nicht besprechen, sondern unsere Todo-Liste abarbeiten. Dieser schnelle Wechsel von ordnender, konzeptioneller Arbeit zur Handlung, von Lesen und Verstehen zur Aktion – dieser schnelle Wechsel von dem einen Zustand in den anderen, führt zur Ermüdung, für manche zum Burnout, für viele zu der Aussage, dass immer zu wenig Zeit da sei für das Wesentliche.

Die Mitte

Das Problem scheint offensichtlich: die Mitte. Es fehlt an Zeit für die Mitte, Zeit für Reflexion, Nachdenken, Empfinden, Selbstfürsorge, Fühlen, Erleben und zu guten Entschlüssen und nächsten Schritten finden. In der Leadership Literatur finden sich hierzu immer mehr Bücher mit Titeln, die auf das Herz hinweisen oder auf Vertrauen und die sogenannte psychologische Sicherheit für gute Teamentwicklung.

Wenn wir nur denken und handeln erscheint uns unser (Arbeits-) Leben mehr oder weniger unter Kontrolle. Wenn wir uns auf den mittleren Bereich einlassen, erscheint unser Leben möglicherweise chaotisch, emotional, unkontrollierbar, verwirrend, schmerzhaft, freudig, angstvoll, mutvoll, und vieles mehr. Dieser mittlere Bereich erfordert von uns eine andere Herangehensweise. Er erfordert, dass wir Herausforderung und Schwäche zugeben und zulassen, dass wir uns im Dialog als ganze Menschen zeigen und gemeinsam nächste Schritte gehen.

Führung aus der Mitte

Wie viele Führungskräfte heute denken noch, dass sie – weil sie ja Führungskraft sind – die Lösung bereits haben müssen, bevor das Meeting beginnt, anstatt für einen guten Prozess zu sorgen, sodass das Team die Lösung gemeinsam findet? Will ich die Intelligenz im Raum sinnvoll nutzen, muss ich lernen zuzuhören, die richtigen Fragen stellen, und sehr gut wahrnehmen, wo die Teammitglieder stehen, was sie denken und fühlen, und dafür sorgen, dass jeder im Team auch wirklich zu Wort kommt.

Kopf und Herz – ein Liebespaar

Solche Eigenschaften sind Mitte- oder Herzeigenschaften. Die gilt es aus meiner Sicht heute aufzugreifen und weiterzuentwickeln, sodass wir zu unserem sehr gut geschulten Kopf das Herz hinzunehmen. Der Herzchirurg Dr. Reinhard Friedl hat Kopf und Herz in einem Podcast wie ein Liebespaar beschrieben. Der eine braucht den anderen, sonst wird der Organismus krank. Zusammen sind beide stark. Jeder allein, das geht weniger gut.

Herzforschung

Die Herzforschung zeigt uns inzwischen, dass das Herz viel mehr als nur eine Pumpe ist. Es ist Wahrnehmungsorgan für den Sauerstoffbedarf, es ist Ausgleichsorgan für verschiedene Drücke im Kreislauf, es rhythmisiert, zusammen mit dem Atem und vieles mehr (siehe z.B. Branco Furst: The Heart and Circlulation, Springer 2020).

Relevanz der Herzforschung für Leadership

Zur Entwicklung von Mitte- oder Herzqualitäten für Leadership und Führung ist es aus meiner Sicht hilfreich, wenn wir diese Funktionen und Qualitäten beim Menschen selbst „abgucken“, also beobachten und verstehen und dann anwenden. Dann bekommen die Herzqualitäten, die wir so leicht als unwissenschaftlich und emotional abtun, ihre rechte Grundlage und es wird leichter, sie in der Praxis, in Leadership und Führung, in der Teamentwicklung anzuwenden.

Zwei Herangehensweisen

Ein mögliches Anwendungsbeispiel ist das folgende: wir kennen zwei Herangehensweisen sehr gut. Der eine denkt erst und handelt dann. Der andere handelt ohne erst zu denken und denkt nach der Handlung über diese nach. Beide Wege wenden wir ständig an. Wir denken und planen vieles und setzen es dann um. Wir handeln aber oft auch gedankenlos und merken danach, ob die Handlung gut oder nicht gut war. Vieles probieren wir ja auch aus, um dann festzustellen, was am besten funktioniert.

Aus dem Herzen handeln und denken

Eine mögliche dritte Herangehensweise wäre vor dem Hintergrund der erwähnten Herzforschung, dass wir mit unserem Bewusstsein in unsere Mitte gehen und von dort aus handeln und denken. Wir handeln dann mit Empathie, Interesse, sehr wach und wahrnehmend und wir denken etwas langsamer und begleiten unser Denken aktiv mit Gefühlen und Empfindungen. Wir handeln und nehmen gleichzeitig unsere Wirkung auf andere wahr und wir Denken und fragen uns dabei, was unser Herz wohl dazu sagen würde. Diese dritte Herangehensweise erfordert eine ganz andere, stärkere Präsenz, oder Gegenwärtigkeit. Wir sind als ganze Menschen mehr präsent, nehmen genauer wahr, hören besser zu und nutzen die Intelligenz im Raum ganz anders als bisher, weil wir das Team mit mehr Aufmerksamkeit in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen.

Mit dem Herzen führen

Mit dem Herzen führen meint demnach, dass wir üben, im Alltag immer präsenter zu werden und unsere Mitte zu stärken, statt sie zu verlieren. Das geht zum Beispiel gut über den Atem. Ich stelle mir vor, wie ich in der Herzgegend ein- und ausatme. Mein Bewusstsein ist in der Herzgegend, während ich denke oder handle. Ich bleibe präsent und fühle meinen Körper, während ich in Meetings oder aktiv bin. Ich kann den Atem dann etwas verlangsamen, so wie es angenehm ist, und dazu ein Gefühl der Dankbarkeit und Freude aufrufen. Das bewirkt angenehme Gefühle in mir. Es reduziert meinen eigenen Stress. Und das strahlt dann aus auf die anderen und verändert die Stimmung im Raum. Es schafft die Möglichkeit, um vielleicht zu anderen Entscheidungen zu kommen, als wenn wir wie üblich durch die Agenda durchhetzen.

 

 

 

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